analog in 2024?

2003 hat unser Umstieg auf die digitale Fotografie begonnen: mit der Canon IXUS III, mit ganzen 3.2 Megapixeln, haben wir unsere ersten Schritte gemacht, bevor 2004 die Nikon D70 erschien und wie innerhalb eines Jahres vollständig auf digitale Fotografie umgestiegen sind,  was unsere «offizielle» Fotografie betrifft: meine Frau fotografiert die Turniere des hiesigen Fussball-Vereins, ich alle offiziellen Gemeinde- und Kirchenanlässe. Von Anfang an im RAW-Format, unser «Labor» war anfangs die Nikon-Software, später stiegen wir auf Lightroom um.

Zu Beginn war digital nett, aber gegen ein gutes Mittelformatfoto immer noch chancenlos (mal abgesehen davon, dass niemand ein Fussballspiel oder einen Gemeindeanlass mit einer Rolleiflex fotografieren würde). Spätestens mit Kameras wie Nikons D750 war aber auch das Thema erledigt: vor allem die Bildqualität bei höheren ISO und die Möglichkeiten der Bearbeitung der RAW-Dateien bei vergleichbar geringem Aufwand war der letzte Sargnagel der analogen Fotografie.

Und trotzdem entsteht ein Teil meiner Bilder immer noch analog: manche im Kleinbild (Nikon F3 und F100), das meiste aber im Mittelformat mit der Rolleiflex 3.5T oder einer gut genutzten Hasselblad 500 CM. Wozu der Aufwand, wozu die Kosten, die viele Arbeit? Was kann eine Nikon Z6 oder Z7 nicht, was ein Mittelformat kann? Geht «gute alte Zeit» nicht auch mit der Nikon Zf oder einer Fujifilm X100VI oder X-T5, wenn es unbedingt «klassisch» sein soll?

Bildqualität

Geht es um Bildqualität, wie sie heute auf den diversen Fotografie-Seiten bewertet wird, dann kann Analog einpacken: Auflösung, Farbtreue, Rauschen, hohe ISO-Werte… im analogen Kleinbild kann man das knicken, hier ist schon eine A3-Vergrösserung im Nass-Labor eine Herausforderung, ein Scan mit anschliessendem Druck bei hybrider Arbeitsweise  mit einem guten Scannern möglich, aber nicht wirklich das Gelbe vom Ei.

Tessin, Val Verzasca. Fotografiert mit einer Rolleicord Vb auf Ilford FP4 Plus, Entwickelt in Ilfosol 3. Gescannt mit Flachbettscanner Epson V700.

Im Mittelformat sieht das anders aus, zumindest im Nasslabor mit klassischer Vergrösserung sind Bilder im Meterformat problemlos machbar. Hybrid, also analog fotografiert, dann gescannt und damit digitalisiert, hängt es vom Scanner ab: der perfekt eingestellte Flachbettscanner macht hervorragende Ausdrucke im Format A3 möglich, wer mehr will, der sollte einen Scan-Service mit einem der guten alten Trommelscanner bemühen.

Nur: was genau ist Bildqualität? Ist ein Bild grundsätzlich besser, weil es rattenscharf ist? Oder weil man kein Korn sieht, die Farben genau so aussehen wie in der wahrgenommenen Wirklichkeit?

Dokumentation und Imagination

Eine möglichst realitätsnahe Abbildung, perfekte Farben bei jedem Licht, das sind die Fotos, die ich digital mache, egal ob mit der Nikon oder dem iPhone. Wobei sich niemand beschwert, wenn ich den Grünstich entferne, den die farbigen Kirchenfenster erzeugen, oder den Pickel, den ich Dank Lightroom in der Nachbearbeitung verschwinden lasse. Realität ist für die meisten Menschen (auch) im Bild nicht das, was wirklich ist, sondern das, was sein sollte.

Fotografie ist aber nicht nur Dokumentation der Realität, Fotografie kann auch Imagination sein, die Vorstellung eines Bildes. Wobei Imagination ein hochtrabender Begriff ist: ein Foto ist für mich dann Imagination, wenn es nicht zwingend nur dokumentiert, sondern Gefühle transportiert, eine Geschichte erzählt, oder durch Grafik oder Geometrie gefällt, beeindruckt und / oder zum Nachdenken anregt. Es ist dann Imagination, wenn man keine Verbindung zum Bild haben muss, um beeindruckt oder interessiert zu sein, egal ob positiv oder auch negativ.

Physis (nicht Physik!) und der Dachboden

Physis: das ist ein geschwollenes Wort. Philosophisch steht es für das Körperliche, im Gegensatz zum Geistigen. Digitale Fotografie ist zwar nicht viel geistiger als das analoge Gegenstück, sie ist aber trotzdem weniger körperlich, weniger greifbar: ob meine Urenkel, wenn sie dereinst eine verstaubte Kiste mit meinen alten Festplatten darin auf dem Dachboden finden, jemals die Bilder werden anschauen können, die ich darauf gesichert habe, ist höchst fraglich: nicht nur, dass die Festplatten funktionieren und überhaupt noch Daten lesbar darauf erhalten sein müssen, es braucht auch den Computer, der mit der USB-Schnittstelle etwas anfangen kann, die Software, die die Dateien lesen kann, und im schlimmsten Fall den RAW-Konverter, wenn ich mal wieder nur die Speicherkarte nach einer Tour gesichert habe, dann aber für die Bearbeitung keine Zeit mehr hatte und die Bilder danach eh nicht so wichtig und dringend waren.

Nikon F100, auf Ilford XP2 Plus, mit Flachbettscanner Epson V700 gescannt

Die Chance, dass jemand in 50 oder mehr Jahren auch nur ein Bild zu sehen kriegt: nicht viel mehr als Null.

Die Entdeckung von fotografischen wie kulturhistorischen Schätzen wie die Fotos von Vivian Maier (https://www.vivianmaier.com/) wären damit  praktisch unmöglich: ihre Fotos, vor allem aber auch viele noch nicht entwickelte Filme, wurden 2007 auf einer Gebrauchtwaren-Versteigerung entdeckt. Die uralten Filme konnte man ganz normal entwickeln, die Negative am Leuchtpult oder vor einem hellen Licht anschauen, egal wie alt sie waren.

Natürlich fotografieren die meisten von uns nicht für das Kultur-Erbe der Menschheit. Aber auch unsere Bilder werden erst über die Zeit wertvoll: ein Foto der gestrigen Geburtstagsparty ist niedlich, aber nicht wirklich interessant. Interessant wird es aber in 20, 30 oder 50 Jahren sein: wenn man die damalige Kleidung sieht, das Wohnzimmer, das heute ganz anders aussieht (oder nicht mehr existiert), die Oma, die damals noch eine junge Frau war, oder auch man selber, als man noch schwarze Haare (oder überhaupt Haare) hatte.

Die meisten Eltern, die ich kenne, haben tausende von Fotos ihrer Kinder, der Einschulung, der wichtigen Momente ihres Lebens auf dem Smartphone. Cloud hin oder her: wie viele dieser Bilder werden noch abrufbar sein, wenn diese Eltern einmal Grosseltern sind, wenn die heute kleinen Kinder selber einmal Eltern oder Grosseltern sein werden? Wer nicht hin und wieder ein Fotobuch daraus macht, Bilder ausdruckt, der sollte davon ausgehen, dass die Nachwelt nicht sehr viele Erinnerungen haben wird an die heutige Zeit, an uns.

Zurück zum Film?

Das bedeutet nun nicht, dass ich mein Smartphone nur noch zum Telefonieren nutze, die Z6 verkaufe und nur noch mit Film arbeite. Natürlich hat die digitale Fotografie so viele Vorteile, dass auch ich weiterhin den grossen Teil der Bilder digital machen werde.

Meine «Erweckung» hatte ich aber beim Aufräumen meines Foto-Schrankes: plötzlich hatte ich die alten Kassetten mit den Negativen in der Hand, bin dann aus Neugier einmal die älteren Blätter durchgegangen und habe dabei eine ganze Reihe Bilder und Filme von vor 20 und mehr Jahren gesehen, die ich nur entwickelt, aber nie gescannt oder vergrössert hatte. Damals schienen sie mir wohl nicht wichtig oder dringend genug, heute entdecke ich auf den Bildern jedoch Orte und Menschen, die ich fast vergessen hätte, die mir heute aber schöne Erinnerungen zurückbringen,

Themen

Die meisten meiner analogen Kameras habe ich behalten, als absehbar wurde, dass es praktisch keine neuen analogen Kameras mehr am Markt geben würde. Ich benutze sie selten, aber wenn, dann vor allem für spezifische Themen: Portraits, Landschaft, Street / Reise. Das sind für mich dann «Analog-Sessions», keine Dokumentation eines Anlasses, sondern Fotos, die ich mir in ein Album klebe oder an die Wand hänge, wenn sie besonders gut ausfallen.

Entwickeln?

Anders als im digitalen Leben gibt es keine jpg-Option, mit der die Bilder fixfertig aus der Filmdose herausfallen (von Polaroid mal abgesehen). Mit Film fotografieren wir daher immer im RAW-Format, mit dem Unterschied, dass der RAW-Converter in unserem Fall flüssig ist: Entwickler, Stopp-Bad, Fixierer, und jede Menge Wasser.

Ob man dann auch noch analog vergrössert, oder ob das Ergebnis der Entwicklung hybrid via Scanner doch noch auf der Festplatte landet, das ist mehr Geschmackssache und auch von den räumlichen Möglichkeiten abhängig. Aus meiner Sicht ist das Negativ der zentrale Punkt der analogen Fotografie: aus ihm kann man per  Kontaktkopie sogar ohne Vergrösserer ein Bild zaubern, man kann es scannen, man kann es einfach nur auf dem Leuchtpult oder gegen ein helles Licht anschauen und weiss ohne jeden Computer, was darauf zu sehen ist.

Analog ist nicht tot, auch wenn es komisch riecht

Natürlich muss man ein bisschen eine Freude haben an der analogen Fotografie, an den Beschränkungen, aber auch an der Faszination, die das analoge Bild, das Negativ, die Einschränkung auf sehr rudimentäre Abläufe mit sich bringen. Eine einfache Alternative zur digitalen Fotografie ist es nicht, eher ein Handwerk, wie es die Malerei schon immer war. Mit ihr hat die analoge Fotografie vor allem eines gemeinsam: es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen, aller Anfang ist schwer, und die Lernkurve ist lang, steil und nicht ganz billig. Kein künstliche Intelligenz verbessert das Ergebnis, kein Automat nimmt uns die Entscheidung für die richtige Kombination aus Film, Entwickler, Verdünnung, Zeit, Bewegung und so weiter ab.

Andererseits: wenn es einfach wär, könnt’s jeder, und wenn wir uns ein Grundwissen erarbeitet haben, dann kann uns das auch keiner mehr wegnehmen. Denn anders als im Digitalen, wo tausende von Spezialisten eine Technik entwickelt haben, die wir in weiten Teilen bestenfalls verstehen, aber nie selber umsetzen könnten, vom Aufbau eines BSI-Sensors bis zur Software für die Bildbearbeitung, kann man analog, wenn man sich das antun möchte, praktisch vom Anfang bis zum Ende selbst machen: von der lichtempfindlichen Glasplatte bis zur Chemie aus Kaffee und ein paar Grundzutaten, die man in jeder Apotheken kaufen kann. Selbst die Kamera lässt sich selber bauen: eine 4×5″ Fachkamera war die Maturarbeit meines Sohnes, bis auf Objektiv, Balgen und Filmhalter vollständig selbst gebaut. Die Fotos dieser einfachen, aber in alle Richtungen verstellbare Kamera auf den riesigen Negativen schlagen jede Digitalkamera. Aber: das alles ist mit Arbeit verbunden, mit Mühsal, aber auch mit sehr viel Spass.

Ich möchte jeder und jedem, der Freude am Handwerk, an der direkten Beeinflussung des Ergebnisses durch die eigene Arbeit, die eigenen Entscheidungen hat, der nicht immer alles nur der Software überlassen will, die andere geschrieben haben, ermutigen, sich eine gebrauchte Kamera, ein paar Rollen Film zu leisten und einfach einmal zu beginnen.

Es muss nicht gleich der komplette Prozess und das Mittel- oder Grossformat sein: ein Farbfilm oder ein chromogener s/w-Film (also ein Schwarzweiss-Film, der aber als Farbfilm entwickelt wird) wie Ilfords XP2-Super ermöglichen die Arbeit mit der Kamera, ohne sich um die Entwicklung kümmern zu müssen. Nach ersten Erfahrungen kann man immer noch mit «echten» Schwarzweiss-Filmen beginnen, mit günstigen, flexiblen Filmen, die gutmütig auf Fehlbelichtungen reagieren, bevor man auf teures Material umsteigt, mit besonderen Eigenschaften, wo meist aber auch eine gewisse Konsistenz von der Belichtung bis zur Entwicklung erforderlich ist. Wie gesagt: Übung macht den Meister, aber wer das anfängliche Tal der Tränen erfolgreich durchquert hat, dem eröffnet sich eine interessante und schöne Welt, die nicht mehr viele Menschen beherrschen, die aber allen Freude macht, wenn sie die Ergebnisse als dauerhafte Erinnerung mit in ihr Leben nehmen dürfen.

Analog in 2024

Analog ist nicht tot, im Gegenteil, es wächst und gedeiht. Sicherlich auf einem sehr viel tieferen Niveau als Ende der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts, aber mit immer mehr kleinen Anbietern, die immer mehr interessante Technik liefern. Insofern wird die analoge Fotografie uns auch weiter begleiten: als Kunstform, für besondere Erinnerungen, oder aus Freude an der Technik. Zwar gibt es ausser bei Leica keine neuen Kameras für das Kleinbild und Mittelformat mehr, aber es gibt einen immer noch sehr grossen Gebrauchtmarkt, und es gibt für alle, die es noch spezieller brauchen, immer noch Grossformatkameras, die man sich notfalls selber bauen kann, die aber auch noch neu produziert werden. Und das sogar im bezahlbaren Bereich.

Holger / 14.03.2024

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